Die Veranstaltung findet in englischer Sprache statt.

Kann Kunstkritik zur Geburtshelferin eines neuen Bewusstseins werden, indem sie Raum offen hält für das, was noch nicht zur Sprache gefunden hat?

Dieses Symposium widmet sich Übergangszuständen wie Trauer, Heilung und kollektiver Neubesinnung – und deren Verbindung zur Kunstkritik. Es fragt danach, wie die spirituelle, ästhetische und politische Arbeit der Kunst – das Aufspüren von Schmerz, die Kartierung intergenerationaler Traumata und das Entwerfen fragiler Architekturen der Fürsorge – mit der dringenden Notwendigkeit verknüpft ist, die Sprache zu erneuern, in der solche Arbeit geschieht.

Der englische Titel „Art Critique as Midwifery of a Shifting in Consciousness” bezieht sich auf den Ausdruck „Midwifing a Cultural Shift“ („einen kulturellen Wandel zur Welt bringen“), der der Hebamme und Geburtsbegleiterin Rachelle Garcia Seliga zugeschrieben wird. Er geht aus einem Gespräch mit Stav Yeini hervor, das vom Verlust von Sprache durch Polarisierung, der Physiologie der Geburt und dem gegenwärtigen Bewusstseinswandel handelte – ein Wandel, der durch neue Technologien geprägt ist.

Das Symposium widmet sich neuen Begriffen der Kunstkritik jenseits linearer Medien und positioniert Kritik als einen Metabolismus des Umbruchs und des Aufbruchs – als eine Form des Zuhörens und Anders-Antwortens auf ästhetische wie gesellschaftliche Verschiebungen.

Gemeinsam mit Julieta Aranda, Will Furtado, Kate Brown, Kristian Vistrup Madsen, Ruth Noack und María Inés Plaza Lazo, allesamt Mitglieder der deutschen Sektion der AICA, schafft die Veranstaltung einen konzeptuellen Rahmen, in dem Kritik als Analyseinstrument verstanden wird, das tief mit unserem Weltverständnis und den darin eingebetteten Vorannahmen verflochten ist. Kunstkritik wird hier neu gedacht als ein Werkzeug, das es erlaubt Schmerz, Traumata und ideologische Verhärtungen in künstlerischer Produktion zu verarbeiten – und das zugleich kritische Freude stiftet: eine Praxis der Anwesenheit, welche die Fixierung auf singuläre Formen der Wahrheit herausfordert.

Im Berliner Kontext bietet die Klangarchitektur von Stav Yeini, die in Praktiken perinataler Fürsorge wurzelt, mehr als nur eine Metapher für Kritik: Sie stellt ihr eine materielle Grundlage zur Verfügung. Yeinis Installationen und Performances schaffen Räume der Ko-Präsenz, in denen Zeug*innenschaft zu einer verkörperten, zeitlich ausgedehnten Auseinandersetzung mit dem wird, was sich erst formieren muss. Dies ist nicht Kritik als Urteil, sondern als Geburtshilfe: eine Arbeit des Zuhörens, Haltens und Einstimmens auf ein entstehendes Leben unter systemischen Beschränkungen. Yeini betont, dass Kritik situiert, verletzlich und partizipativ sein muss – eine solidarische Praxis, die nicht Bedeutung extrahiert, sondern hilft, sie in die Welt zu bringen.

Diese Ethik einer kritischen Geburtshilfe spiegelt sich in der Arbeit von Issa Amro wider, dessen Einsatz für zivile Infrastrukturen in Hebron die materiellen Risiken und ethischen Konsequenzen des Mit-Bezeugens in den Vordergrund rückt. Gemeinsam mit ihm und Barbara Debeuckelaere produzieren Arts of the Working Class Plakate mit Fotografien aus dem Alltag von Müttern in Tel Rumeida, deren Erlöse direkt lokalen Familien zugutekommen. Die Fotografien verwandeln das Bezeugen in materielle Umverteilung und verweigern sich dem moralischen Kapital, das durch distanziertes Zuschauen oft entsteht. In diesen Praktiken verschiebt sich Kritik von einer autoritären Haltung zu einer Haltung des Hervorbringens, verankert in Präsenz, Fürsorge und Machtumverteilung.

Kritik wird hier zu einem gemeinsamen Ritual, das erlaubt neu zu lernen, wie man über Unterschiede und Brüche hinweg spricht, zuhört und Zeugnis ablegt. Ausgehend von feministischer und dekolonialer Theorie bevorzugt das Symposium relationale und kollektive Formen der Kritik gegenüber vorgefertigten ideologischen Positionen. Kritik ist dabei nicht bloß Analyse, sondern eine Geste der Gegenseitigkeit, die Unterschiede in den Erfahrungen anerkennt. Ihr Fehlen in politischen wie künstlerischen Diskursen zeigt sich in einer zunehmenden Unmöglichkeit des Gesprächs, das ohne die Instrumentalisierung von Perspektiven auskommt – ein Zustand, der in einer zunehmend konservativen globalen Gesellschaft zur Norm wird.

Programm

11:00 Uhr – Einführung & Klangintervention
Zu Beginn stimmen wir uns ein. Ein Klangfeld empfängt die Teilnehmer:innen an einer gemeinsamen sinnlichen Schwelle und öffnet die Grenze zwischen öffentlichem und innerem Raum. Diese rituelle Eröffnung – konzipiert von Stav Yeini – lädt den Körper ein, zum Hörorgan zu werden und sich auf ein Denken-Fühlen vorzubereiten, das in Aufmerksamkeit, Durchlässigkeit und Fürsorge gründet.

11:45 Uhr – Pause & Erfrischungen
Ein Moment des Ankommens. Begegnung wird möglich. Gespräche und Gastfreundschaft verwurzeln den Raum und führen als Übergangsritus in die Offenheit.

12:00 Uhr – AICA Panel I: Schreiben über Kunst als Heilungsprozess
Will Furtado, Kristian Vistrup Madsen
Moderation: Ruth Noack

Dieses Panel erkundet, wie das Schreiben über Kunst als Gefäß für psychische und soziale Heilung dienen kann. Von den verkörperten Topografien von Ort und Überlieferung in AWC über Will Furtados diasporische, queere Redaktionspraxis bis zu Kristian Vistrup Madsens meditativer Prosa über Intimität und Institutionen – alle Beiträge stellen Verletzlichkeit als Methode ins Zentrum. Schreiben ist hier keine Aufführung von Wissen, sondern eine Form des Zuhörens durch Sprache.

13:00 Uhr – AICA Panel II: Kunstkritik als mykologische Kommunikation
Stav Yeini, Julieta Aranda
Moderation: Stanton Taylor

Was kann Kritik vom Myzel lernen? Dieses Panel versammelt Künstler*innen, deren Praxis sich an der Schwelle zwischen dem Gesehenen und dem Erspürten bewegt – wo Performance, Pädagogik und Publikation alternative Wissenssysteme modellieren. Die somatische Praxis von Stav Yeini denkt Geburt und Grenze als klangliche Bedingungen neu, Taylor erforscht kollektives Körperwissen in Bewegung, Aranda unterbricht kapitalistische Zeit durch spekulative Infrastrukturen. Kritik, so die These, kann sich wie Pilzgeflecht horizontal ausbreiten – Hierarchien auflösen, aus Zerfall nähren, Netzwerke der Solidarität stützen.

14:00 Uhr – Mittagspause
Ein Intermezzo zum Verdauen, zum Verbinden. Eine Klanginstallation von Stav Yeini begleitet weiterhin subtil den Prozess des Einstimmens – mit Frequenzen, die das Nervensystem direkt ansprechen.

15:00 Uhr – Gespräch mit Issa Amro und Barbara Debeuckelaere
In diesem Gespräch treffen bildbezogene Aktivismen auf bezeugende Fürsorge. Amro und Debeuckelaere sprechen über den Körper als Archiv, Fotografie als situiertes Wissen und die Poetik des Widerstands. Die Diskussion fragt, wie Kritik politische Realitäten bewohnen kann, ohne sie zu instrumentalisieren.

16:00 Uhr – Abschluss & Konzert
Ein kollektives Ausatmen. Der Tag endet mit einer musikalischen Darbietung von Stav Yeini, die affektive Resonanzen in Rhythmus verwandelt – ein Raum für nonverbale Kontinuität. Ergänzt durch gesammelte Notizen von Kate Brown.

17:00 Uhr – Ende des Symposiums

Kuratiert von María Inés Plaza Lazo, Mitglied der AICA Deutschland, Herausgeberin und Gründerin von Arts of the Working Class.
Mit freundlicher Unterstützung von Atelier Gardens und dem Institute for Film and Performance Expanded.

Anmeldung

Alle sind herzlich willkommen.
Um einen Platz zu sichern, bitte anmelden unter:
distro@artsoftheworkingclass.org

Kooperierende Institutionen

Arts of the Working Class
Atelier Gardens
The Institute for Performance and Film Expanded
AICA Deutschland e.V.

 

Mitwirkende

Issa Amro ist Träger des Deutsch-Französischen Preises für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit 2024 und war gemeinsam mit Jeff Halper Kandidat für den Friedensnobelpreis 2025. Er setzt sich für gewaltlosen Widerstand und kollektives Handeln gegen systemische Unterdrückung im Westjordanland ein.

Julieta Aranda arbeitet konzeptuell an den Schnittstellen von Zeit, spekulativer Infrastruktur und alternativen Zirkulationssystemen.

Kate Brown ist leitende Redakteurin von Artnet News für Europa und berichtet über zeitgenössische Kunst und Kulturpolitik aus Berlin.

Barbara Debeuckelaere verknüpft Memory Studies und politisches Zeugnis zu visuellen Narrativen über postkoloniale Geschichte und intergenerationale Traumata.

Will Furtado beleuchtet in seiner kuratorischen und schriftstellerischen Arbeit dekoloniale Ökologien und queere Zukünfte.

Kristian Vistrup Madsen ist Autor, dessen reflektierende Prosa Themen wie Inhaftierung, Intimität und künstlerische Praxis verhandelt.

Ruth Noack verankert ihre kuratorische und kunsthistorische Arbeit in feministischer Theorie und kritischem Denken.

María Inés Plaza Lazo ist Herausgeberin, Kuratorin und Gründerin von Arts of the Working Class, mit Fokus auf experimentelles Publizieren und kritische Theorie.

Stanton Taylor untersucht Körperlichkeit und kollektives Gedächtnis in Kunst und Text.

Stav Yeini ist Musikerin und schöpft aus rituellen und perinatalen Praktiken, um verkörpertes Wissen als Ressource kollektiver Heilung zu erforschen.