Baden, Sebastian

Sebastian Baden
Sebastian Baden

Sebastian Baden

Sebastian Baden ist Kunstwissenschaftler, Kurator und Kunstkritiker. Er studierte in Karlsruhe und Bern Freie Kunst, Kunsterziehung, Kunstgeschichte, Germanistik und Soziologie. Noch während seines Studiums an der Kunstakademie gründete er zusammen mit seinem Zwillingsbruder Lukas Baden die Galerie Ferenbalm-Gurbrü Station für aktuelle Kunst in Karlsruhe. In den ehemaligen Druckereiräumen des Passagehofes fanden zwischen 2006 und 2011 mehr als 40 Ausstellungen und Veranstaltungen statt, von großen, thematisch ausgerichteten Gruppenausstellungen, darunter „Funny Games – Dead Serious“, „Slices of Life – Contemporary Photography“, „Pulp Fiction – Works on Paper“ oder „Swinging on the Wrecking Ball“, bis zu Einzelpräsentationen internationaler KünstlerInnen.
Im Jahr 2010 wurde Sebastian Baden akademischer Mitarbeiter in Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung (HfG) in Karlsruhe und arbeitete als Assistent am Lehrstuhl von Prof. Dr. Beat Wyss. Dort promovierte er 2014 über „Das Image des Terrorismus im Kunstsystem“. Seine Seminare behandelten u.a. den Kunstmarkt („Blue Chips und Rote Punkte“, „ArtFairArt“), die Geschichte der Kunstausstellung („Transcurating“) und die„Documenta“-Kunstkritik. 2013 wurde ihm der AICA International Incentive Prize for Young Art Critics verliehen. Er schreibt u.a. für die Magazine ARTMAPP und artline.org. Im Oktober 2016 hat Sebastian Baden die Stelle als Kurator für zeitgenössische Kunst mit Schwerpunkt Skulptur an der Kunsthalle Mannheim angetreten.

AICA incentive Prize for Young Critics 2013

Die Gute Fee.
Warum die dOCUMENTA (13) Künstlerträume erfüllt, aber die Welt nicht retten kann.

„Vielleicht“ wird diese dOCUMENTA (13) bald die beste genannt werden. Vielleicht wird das daran liegen, dass diese Ausstellung an einem Mythos der Kunst festhält, der von Heilung spricht. Und keine Erwartungshaltung, die sich – wie im Märchen – nach einem solchen Mythos sehnt, wird sich enttäuschen lassen. Darum darf die Illusion ruhig bleiben, verweile doch, du bist so schön. Inmitten des sonnengetränkten Aueparks, umgeben von natürlichen und künstlich angelegten Pflanzungen streifen Sommerdüfte übers Land. Es ist wieder schönes Wetter in Kassel und der Nieselregen hat sich verzogen. Über einen von dem Künstler Song Dong vor der Orangerie und im Fluchtpunkt der barocken Gartenanlage positionierten Müllberg ist Gras gewachsen. Die Zeit und die Kunst, so scheint die dOCUMENTA (13) sagen zu wollen, heilen alle Wunden.
Doch klaffen auch unverheilte Narben in dieser grünen Landschaft. Auf dem luftigen Galgengerüst des Amerikaners Sam Durant ist nachzulesen, wie es um die Geschichte der öffentlichen Hinrichtung in den USA steht – bis zum unveröffentlichten Tod durch den Strang des irakischen Diktators Saddam Hussein. Ein paar hundert Meter davon entfernt bieten Robin Kahn & La Cooperativa Unidad Nacional Mujeres Sahrauis Gespräche über das Schicksal alteingesessener Völker der Westsahara an, die von der ehemaligen Kolonialmacht Spanien verlassen und vom Staat Marokko schlecht behandelt wurden. Die Geschichte wiederholt sich, das ist nicht erst seit Karl Marx bekannt, doch was kann die Kunst gegen diese Farce unternehmen?
Man könnte der Kuratorin der Ausstellung, Carolyn Christov-Bakargiev (CCB), zunächst bestätigen, dass die von ihr ohne bewusstes Konzept kuratierte Ausstellung zu einer großen Erzählung geworden ist. Sie hat vorbeugend zwar betont, dass die dOCUMENTA (13) von einer „ganzheitlichen und nicht logozentristischen Vision angetrieben“ wird, doch wird die große „Skepsis“ der Ausstellung gegenüber der Welt vor allem dann ausdrücklich und verständlich, wenn man die drei großen Kataloge zur Hand nimmt. Schon das Begleitbuch zu einzelnen Künstlern und Werken ist kein Handschmeichler, aber seine Karten und Indices sind unentbehrliches Werkzeug auf der Schnitzeljagd nach den schier unzähligen Orten, die in Kassel dOCUMENTA (13)-Stationen beherbergen. Alle drei Bücher, welche die dOCUMENTA (13) begleiten, sind in das Grün der Hoffnung gebunden. Und das „Buch der Bücher“, wie sich der erste voluminöse Band nennt, enthält neben den beiden Keynote-Texten der Kuratorinnen Carolyn Christov-Bakargiev und Chuz Martinez sämtliche Ausgaben der in den Jahren zuvor erschienen 100 Notizen – 100 Gedanken in komprimierter Form. Auch dies ist ein fast unverzichtbares Nachschlagewerk bei der Ergründung der intellektuellen Fundamente dieser Ausstellung. Die Leseliste, die als „Propädeutik zur Grundlagenforschung“ bezeichnet wird, umfasst nach unsichtbaren Kriterien komponierte Charts, die von der griechischen Antike bis zur aktuell von Tirdad Zolghadr publizierten Schrift „Judgement and Contemporary Art Criticism“ die Vielfalt des menschlichen Intellekts und seiner Urteilskraft exemplarisch beleuchten. Soviel geballte Selbstreflexion macht ehrfürchtig – und täuscht darüber hinweg, dass hier tatsächlich immer noch vom utopischen Traum der „Rolle der Kunst beim Bau einer neuen und besseren Welt“ gesprochen wird, während eigentlich der Rest der Welt, der sich angesprochen fühlen müsste, unästhetisch arbeiten muss, um zu überleben und die dOCUMENTA (13) nie erleben wird.
Vielleicht ist es gerade deshalb die „Unsichtbarkeit“ des „Schicksals der Verlierer der Geschichte“, der „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon), die in dieser dOCUMENTA (13) so zahlreich angesprochen wird. Besonders hervorzuheben sind die Beiträge von Künstlern aus den arabischen Ländern, welche von der Geschichte des Unfriedens und der prekären Verständigung erzählen, denen Völker und Staaten seit jeher unterworfen sind. Rabih Mroués Videolecture und Daumenkino zu den Sniperangriffen auf Zivilisten in Syrien, die Fiktionen und Verschwörungstheorien des libanesischen Künstlers Walid Raad & The Atlas Group, Ayreen Anastas und Rene Gabris Kryptisierung der Widerstandsbewegung in Ägypten, die postkolonialen Narben „extra-okzidentaler Kulturen“ in Kader Attias riesiger Installation oder die faszinierend unheimlichen Puppen-Spielfilme über die Kreuzzüge von Wael Shwaky – sie sind ein Pars pro toto für die Unbilden der Existenz und zugleich Zeugnis einer kreativen, erkenntnisreichen und befremdenden Kunst. Die Situation des zuschauenden Beobachters erfährt konstant die Dialektik, dass der Luxus der Sicherheit unmittelbar an das Konfliktpotenzial, aus welcher diese entstanden ist, erinnert.
Die dOCUMENTA (13) macht sich durch ihre gesunde Selbstreflexion eine Pazifizierungs-strategie zu Eigen, mit der das Kuratorium Deutschland verlässt und über Kairo nach Kabul und Banff den Diskurs der Ästhetik und Wahrnehmungskritik verbreitet. Ein solcher Eskapismus, der idealistisch eines der kulturell prekäresten Zentren der Welt in Afghanistan mit der ökologisch ausbalancierten kanadischen Natur zusammenbringt, sorgt für Exklusivität. Die große Erzählung der dOCUMENTA (13) ist eine noble Geste, die sich zugleich an ausgewählte Gäste hält. Ihr Intellektualismus wird in den Dependancen wahrscheinlich nur Wenigen zu Teil. Der Export der documenta in das arabische Land Ägypten und nach Afghanistan gleicht einem Re-Import der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, nur dass Aladin sich in eine intellektuelle Kuratorin verwandelt hat. Der Flaschengeist versprüht gewissermaßen die Idee der Europäischen Aufklärung im Gewand von Selbstreflektion und Cultural Studies Workshops. Die Kunst dient dem Guten wie dem Bösen und bewahrt sich eine magische political correctness.
Aber der märchengleiche Traum, in der Welt mit Kunst alles wieder gut machen zu können, ist unrealistisch. Dennoch will die Kuratorin CCB mit ihrer Ausstellung Differenzen überwinden, Verbindungen schaffen und Raum für Veränderungen bereitstellen. Die Kunst wird zur Hypnose, wie sie Marcos Luytens anbietet, aus der ein Betrachter vielleicht mit Schrecken erwacht und feststellen muss, dass sich nichts geändert hat. Die Welt ist gleich schlimm und gleich gut wie zuvor, vielleicht ist uns aber die Natur ein Stück näher gerückt. CCB will die Rechte der Umwelt stärken und auf Ressourcen schonendes Leben aufmerksam machen. Die Präsenz der Dinge soll dem Besucher bewusster werden, denn Stein ist nicht gleich Stein, wie schon die Kopie eines Marmor-Findlings von Giuseppe Penone beweist. Überhaupt hat CCB viele Gegenstände und Menschen ins Feld der Kunst gebracht, die man dort nicht vermutet hätte. Was haben der binäre Code der Rechenmaschine von Konrad Zuse, die Erdatmosphäre oder Getreidesamen ästhetisch gemeinsam? Sie bilden Komponenten unserer Umwelt, erhalten Leben und machen es berechenbarer.
Doch ist das nicht eine Platitüde? Nach Joseph Beuys war jeder Mensch ein Künstler, nun sei alles Kunst? Die dOCUMENTA (13) macht sich frei von einem Kunstbegriff, behält aber dessen Avantgardeanspruch bei, Leben und Kunst in einer Schnittmenge zu sehen. Dies entspricht mehr einer „Arrière-Garde“, als welche Bazon Brock, langjähriger Betreuer der Besucherschule der documenta seit 1968, jene Prozesse nennt, die hätten passieren können, aber nie eintraten.
Leben, atmen, sehen, lieben – es ist viel Pathos in dieser Ausstellung, auch wenn es zurückhaltend formuliert wird. Schon der zugige Eingang ins Museum Fridericianum hält dem Neuankömmling im aktuellesten Raum der Kunst nichts als Druckunterschiede vor, produziert von dem Künstler Ryan Gander, dessen Arbeit frischen Wind in die Ausstellung bringt.
Hier ist das sogenannte „Brain“ der Ausstellung zu betrachten, eine Wunderkammer mit Artefakten aus der Kulturgeschichte der Menschheit. Provozierend symptomatisch stößt man dort auf die Fotos von Lee Miller, als die Fotografin am 30. April 1945 in Hitlers Münchner Wohnung in der Badewanne posierte. Wieder einmal sind es die Initialen des Führers, die für ein schaurig schreckliches Kunsterlebnis sorgen. Auf dieser journalistischen Anekdote baut die dOCUMENTA (13) den Zweig ihrer Erinnerungsarbeit auf und mit sichtbarem Erfolg hat CCB viele Künstler mit der Geschichte des Konzentrationslagers, dem ehemaligen Benediktinerkloster und späteren Mädchenheim Breitenau bei Kassel bekannt gemacht.
Die eindrücklichste Fiktion dazu hat der deutsche Filmkünstler Clemens von Wedemeyer geschaffen und auf einer Triangel-Leinwand im großzügigen Areal des Nordflügels im Kulturbahnhof präsentiert. Über drei Filmteile nähert sich der Künstler historisch der Klostergeschichte, wobei drei Figuren alle Erzählstränge verknüpfen. Von der Befreiung der inhaftierten Zwangsarbeiter durch die Alliierten, über die Schauspielproben, um das Drehbuch zu Ulrike Meinhofs Schauspiel „Bambule“ umzusetzen, bis zur pädagogischen Anstrengung, einer Schulklasse vor Ort Erinnerungskultur zu vermitteln, reicht das Spektrum des Kunstwerks. Wäre darin nicht die schauspielerische Leistung zu befremdend, dann könnte man dem Film sogar kinematografisches Potenzial zuschreiben. So bleibt das künstlerische Bemühen aber filmisch selbstreflexiv und führt dem Betrachter immer wieder vor Augen, wie schwierig es ist, das Unsagbare oder Undenkbare in eine Form visueller und akustischer Erinnerung zu bringen.
Direkt daneben schafft es hingegen der südamerikanische Künstler und Publikumsliebling William Kentridge mit einer raumfüllenden Videoprojektion über alle Wände hinweg zu verführen. Zu den Klängen des Komponisten Philipp Miller ruckeln und huschen die bekannten Animationen spukartig durch die Spots der Filme und bringen auch den Meister selbst ins surreale Tanzstück. Vielleicht sind dies die Clichés, die man sich von einer solchen Position wünscht, um die kritische Erinnerung an die Apartheid zu pflegen und dabei auch die Alltagskonflikte im häuslichen Miteinander nicht zu vergessen? Es ist immer wieder ein irritierendes Vergnügen, die Vielfalt und Ausdruckskraft in der Kunst von William Kentridge zu spüren und zu sehen. Auch die Einfachheit einer hölzernen Maschine kann hier von mystischer Anmut sein und zugleich die harte Arbeit am Kap der guten Hoffnung symbolisieren.
Ein weiterer Liebling des Kuratorenteams scheint das Duo Faivovich und Goldberg zu sein, die mit ihrer Arbeit zeigen wollen, das Kunst und Glaube zwar keine Berge, dafür aber Meteoriten versetzen kann. Ihr erster Versuch, die zwei Hälften des aus dem argentinischen „Campo del Cielo“ stammenden Meteoriten „el taco“ zusammen zu bringen, gelang unter großem Aufsehen im Frankfurter Portikus 2010. Das ursprünglich auch in Deutschland zersägte Amalgam aus Eisen und Nickel wurde in Washington und Buenos Aires zu wissenschaftlichen Zwecken untersucht und von den Künstlern, ganz im platonischen Sinne, wieder zur Einheit gebracht. Die Tatsache, ein kosmisches „Already-Made“ zu Kunst zu erklären, sorgte somit schon in der Planungsphase der dOCUMENTA (13) für Aufsehen und machte deutlich, wie universal die Größenordnung dieser Ausstellung sein würde. Für ihren Auftritt in Kassel wollten die beiden Künstler noch etwas draufladen und beabsichtigten, den größten Findling des Meteoritenfeldes zu verschleppen, um ihn in der deutschen Provinz wie Kubricks rätselhaften Monolithen aus der Space-Odyssee zwischenzuparken. Das politische, pantheistische und buchstäbliche Gewicht dieses extra-terrestrischen Körpers machte jedoch große Schwierigkeiten und schließlich wurde der Transport des verehrten indigenen Heiligtums aufgrund des Protests der Resistencia Bewegung in Chaco aufgegeben. Zu sehen ist die symbolische Aufhebung des unmöglichen Versuchs in Form von Dokumenten und einem Video, die erzählerisch genug sind, um den Mythos der Kunst auch hier lebendig zu halten. Das Werk der beiden Argentinier ist damit vielleicht der beste Beweis, wie auch das Scheitern von Größenwahnsinn in der dOCUMENTA (13) ein Erfolg sein wird.
Ein wichtiges Zeugnis der unbedingten Inklusionspotenz von Ausstellung und Kuratoren ist ein Brief von Kai Althoff, der seine Absage als Teilnehmer an der Ausstellung mitteilen möchte. Selbst diesen einzigen Rückzieher unter allen geladenen Künstlern macht CCB zum Teil des Ausstellungskonzeptes und stellt die handschriftlich verfasste Beschämung allein in einen windigen Saal. Zu sehen gibt es aus Trotz im „Gehirn“ der Schau aber doch eine kleine Zeichnung des Künstlers. Ideen werden in dieser dOCUMENTA (13) nicht aufgegeben, und es werden täglich mehr, die das fulminante und beeindruckende Begleitprogramm aus Performances, Lesungen, Filmvorführungen und Führungen vorstellt. Hierzu zählt auch die von dem Kurator und Autor Raimundas Malasauskas mit betreute „Black Box“ im ersten Stock der Organgerie, inmitten von rätselhaften Technik-Reliquien und Fernrohren. Die aus Plexiglas und Spiegeln labyrinthisch angelegte Kiste beherbergt unbekannte Objekte, zu deren Deutung jeden Donnerstagnachmittag Teilnehmer der Ausstellung eingeladen werden. Es ist ein komisches Rätselraten, das eigentlich mehr die Denk- und Arbeitsprozesse der Künstlerinnen und Künstler offenbart, als den Eigensinn der ausgestellten Artefakte. Ein Dialog zwischen dem mexikanischen Künstler Abraham Cruzvillegas und Kodwo Eshun, einem Mitglied der Otolith Group, erzeugt ein Rhizom aus Pseudophilosophie und Kapitalismuskritik. Dabei kommt aber die mystifizierende Kapazität der Einschüchterung zur Geltung, mit welcher speziell die wissenschaftliche Arbeit und das Modell der Black Box der Forschung belegt sind. Die Kunst verhalte sich hermetisch oder hermeneutisch, so Kodwo Eshun, demgegenüber Abraham Cruzvillegas den Humor als Moment dialektischer Aufhebung formuliert. Nach Dafürhalten des Mexikaners sei das „Verlernen“ ein Akt wichtiger Vergegenwärtigung im Leben und bei ihm eine künstlerische Strategie. Ein Zeichen, so es nur oft genug gesprochen oder angeschaut werde, verliert plötzlich seine abstrakte Bedeutung und wird keusches Ding. Diesen Abstand zu Konnotationen gilt es in die Kunst zu bringen. Cruzvillegas hat sich deshalb für die Präsenz in absentia entschieden und kein konkretes Objekt zur Ausstellung beigesteuert. Er hält sich stattdessen längere Zeit in Kassel auf und fügt dem öffentlichen Raum kleine Veränderungen zu, Interventionen, denen man nur durch Zufall begegnet, wenn man sie denn bemerkt. Eine solche Strategie der minimalinvasiven Eingriffe zählt zum Mikrokosmos dieser Ausstellung, die sich zwischen Grundlagenphysik und universaler Mythologie in Quantensprüngen bewegt. Dabei werden auch keine Mühen gescheut, um Personal und Material global zu verfrachten. Nur durch Bewegung in der Fremde lernt man das „Andere“ im Eigenen kennen. Eine Ausstellung wie die dOCUMENTA (13) legt auf diese Re-Importstrategie, wie sie schon durch die Biennalen bekannt ist, großen Wert. Bestes Beispiel ist das Hugenottenhaus, einer der vielen Nebenschauplätze in der Kasseler Stadt, wo der amerikanische Künstler Theaster Gates seine Künstlerkommune aus Chicago mitsamt Werkstatt und Baumaterial herangeschafft hat, um während der Laufzeit der Ausstellung das marode Gebäude attraktiv umzubauen. Dadurch sieht es noch nicht wohnlicher aus, aber die künstlerischen Einbauten füllen überraschende Leerräume mit kleinen Details aus, schaffen dunkle Stuben für atmosphärische Jazz-Videos und sorgen für ein rustikales Ambiente, in dem auch live konzertiert wird. Die in Leuchtkisten eingesetzten kleinen Diapositive aus der Art Library der Universität Chicago zeigen Abbildungen von deutschen Renaissance-Stichen, darunter die Vertreibung aus dem Paradies. Das Diskurs-Trauma des Christentums, welches Erkenntnis mit der Strafe des harten Lebens verbindet, findet Widerhall im eschatologischen Schauplatz der Kunst, wo „die Möglichkeit einer metaphorologischen Heilung der durch den Krieg verursachten Verletzungen“ verkündet wird. Es gilt also nicht zu vergessen, dass die französischen Hugenottenverfolgungen keine anderen Glaubenskriege waren als der zerstörerische Terrorismus, der unilateral um islamistische Vorherrschaft kämpft. Die Künstlerkommune aus Chicago ruft aber auch die Anthroposophen des Monte Verità in Erinnerung, die CCB immer gerne als Beispiel für ihre utopischen Vorbilder nennt, wenn sie Auskunft über ihre Lehrzeit bei Harald Szeemann gibt. Der Traum von einer besseren Welt – ob er wenigstens in der Kunst einen probaten Botschafter findet?
Für den Kampf zwischen Gut und Böse gibt es in Kassel letztlich nur zwei Orte, wo man mit einem Happy End rechnet. Dies ist zum einen das Gebrüder-Grimm Museum, mit Ausstellungen über die Ursprünge der Märchensammlung. Zum anderen ist es mit Henschel & KMW der größte Rüstungsindustriebetrieb Deutschlands mit Schwerpunkt Panzerproduktion. Dieser Wirtschaftshintergrund wurde zwar durch Interviews der Künstlerin Natascha Sadr Haghighian thematisiert, aber erst der französische Künstler Thierry Geoffroy brachte die Geschichte auf die Tagesordnung seiner Protestgeste vor dem Fridericianum. Als penetranter Documenta-Kritiker übernahm der Künstler auf seine Art die Rolle der bösen Fee: Er sprühte seine Slogans auf Campingzelte und platzierte diese mobilen Protestelemente auf dem Gelände der Ausstellung. Mit der Forderung nach „emergency art“ und dem Vorschlag: „The next documenta should be curated by a tank“ inszenierte er sich in der Rolle des Spielverderbers im Kunstbetrieb. Seine Kritik hat jedoch ernsthafte Gründe und wurde von der Ausstellungsleitung konfisziert, was unbeabsichtigt zu ihrer Legitimation beitrug.
Eine kongeniale Ableitung des von Geoffroy geäußerten Aufrüstungsvorschlags war hingegen im Märchen-Museum der Gebrüder Grimm zu beschauen. Dort hat sich der Bulgarische Künstler Nedko Solakov mit einer fulminanten Installation selbst inszeniert. Laut Eigenaussage konnte sich Solakov durch den Auftrag der dOCUMENTA (13) endlich seine Jugendträume erfüllen und ließ sich eine Ritterrüstung schmieden, schaffte sich Miniaturhubschrauber an und lernte Schlagzeug spielen. Mit schelmischem Humor stellt er sich in die Tradition des Malteserordens, nimmt an Kriegs-Reenactments teil und untersucht die ritterlichen Tugenden im Alltag. All dies orientiert sich an der romantischen Idee des Rittertums, die auch im Märchen die erlösende Utopie stellt. Für viele dOCUMENTA(13)-Künstler mag die Teilnahme in Kassel wie ein Traum erscheinen, in dessen Wirklichkeit die Kuratorin als gute Fee vorbeihuscht, um für märchenhafte Erfüllung zu sorgen. Die Ausstellung könnte ein Märchen sein, das sicher gut ausgeht, in dem alte Geschichten aus dem Dornröschenschlaf geweckt werden und den Besucher zum suchenden Prinzen machen.
Dies entspricht der Erlösung der Armen durch Reichtum und königliche Heirat, wie es der Kunstkritiker Christian Saehrendt in seinem jüngsten Buch über documenta-Geschichten und Märchen des Kunstbetriebs pointiert ausdrückte. Und weil auch im Märchen nur die Bösen sterben müssen, besteht Hoffnung, dass die dOCUMENTA (13) die Träume hält, die sie verspricht. Vielleicht.

Sebastian Baden

Der Text ist eine überarbeitete Version meines Beitrages:
Die gute Fee. Warum die dOCUMENTA (13) Künstlerträume erfüllt, aber die Welt nicht retten kann. In: dOCUMENTA (13)-Kunstkritik, hg. v. Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe 2012, S. 6-10.
Ausgezeichnet mit dem AICA (International Association of Art Critics) Incentive Prize for Young Art Critics 2013.

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