2005 Kunsttheorie/Kunstkritik im neuen Jahrtausend

Kunsttheorie und Kunstkritik im neuen Jahrtausend

Zum AICA-Kongress in Ljubljana

Der humorvolle Titel (Art Theory and Art Criticism in the New Millennium) beanspruchte, die Dimension der restlichen 995 Jahre ins Auge zu fassen, doch dominierten den internationalen AICA-Kongress in Ljubljana (18. bis 23. September 2005) Themen mit unterschiedlichen Aktualitätsgraden. Kein Vortrag nahm die Steilvorlage zu einer prospektiven Gegenwartsdiagnose an. Die Problematisierungen der Redner drehten sich vor allem um Identitätspolitik und Autonomiekonflikte.

1. Inwieweit bedingt ein jeweils nationales Selbstverständnis die Kunstproduktion, ihre theoretische Grundlegung und ihre kritische Vermittlung? Wer ist der Adressat der Kritik?
2. Inwieweit spielen gesellschaftlich normative Bezüge eine Rolle bei der Produktion und Rezeption von Kunst in öffentlichen und in kunstbedingten Räumen?
Ad 1. Identitätsfragen (Nationalität, Rollenverständnis der Beteiligten im internationalen Diskurs, Empfindung von tatsächlicher oder drohender Marginalisierung) wurden vor allem von Kongressbeteiligten aus jenen Ländern thematisiert, die den Kongress-Dauerbrenner der letzten Dekade ‚Zentrum versus Peripherie’ unter dem Zeichen des Postkolonialismus fortzuschreiben suchten. Vorgestellt wurden „die Kunst des postkolonialen Grönland“, ein Rückblick auf die Kunst in Puerto Rico, die postkolonialen Aspekte bei James Coleman mit Akzent auf seine Irishness, „die doppelte Identitätskrise des afrikanischen Kunstkritikers“ bis zur Detaillierung der Frage: Is there anything like an (African) critic or is there just a figment of a writer’s imagination? In all diesen Vorträgen suchten die Kritiker, mit Kunstinterpretation nationale und professionelle Identitäten und deren Krisen zu klären. Offenbar sind Fragen des Nationalen im Spiegel der Kunst und der ungewisse Adressat für Kunstkritiker in vielen Ländern dringlich, – zumal sie mit dem Selbstverständnis der Redner aus den jeweiligen Ländern verknüpft worden sind. Die britische Kollegin Irit Rogoff bekräftigte diese Tendenz, indem sie davon erzählte, wie ihre Doktoranden am Goldsmith College in London nicht mehr wüssten, an wen sie ihre Dissertationen richten und mit wem sie überhaupt ihr Wissen außerhalb des eigenen Fachbereichs teilen sollen. Ihre Empfehlung an die jungen Wissenschaftler: Write the moment! Forget about the loads of academic research!
Ad 2. Autonomiefragen wurden vor allem von jenen Referenten thematisiert, die sich auf Erfahrungen mit dem Diskurs- und Ausstellungsbetrieb als Instrument der Unterhaltung, als Dispositiv des Aktionismus, als Medium der Aufklärung oder als Diskurs künstlerischer Formen bezogen. Der leider einzige konfrontative Kontrast ergab sich zwischen einem Vortrag, der die Kunst als Erweiterung des gesellschaftlichen Raums (die Zentralthese von Nicolas Bourriauds ‚Relational Aesthetics’, London 1998) scharf attackierte, ihre ethischen Ansprüche ablehnte und zu Grenzziehungen zum gesellschaftlichen Raum ermunterte, und einem Referat, das die kunstnahen Projekte in öffentlichen, nicht kunstbedingten Räumen als Erweiterung des gesellschaftlichen Raums präsentierte; der Referent plädierte zugleich für einen Typus von Kunstkritik, die sich nicht an den Parametern der museumorientierten Kunst ausrichtet, sondern aktualitäts- und sachbezogen auf solche der Reportage, des Journalismus und der Schlagzeilenpresse. Kunstprojekte als Tatbestand im gesellschaftlichen Raum. Eine Verbindung beider Einstellungen entwarf Viktor Missiano, indem er die Gemeinschaftsbildung der Kunstbeteiligten, deren Treffen in Clubs, deren Interessengemeinschaften, deren Netzwerke von Stadt zu Stadt sowie deren Nischen- und Bühnenexistenzen hervorhob: Kunst als integrative Kommunikationsform für kritisches Denken.

Theoretische Bezugsfelder: Neben Bourriaud zählten zu den am häufigsten Zitierten des Kongresses Zygmunt Bauman, Pierre Bourdieu, Benjamin Buchloh, Clement Greenberg, Jacques Derrida, Michel Foucault, Slavoj Zizek. Mit Ausnahme einer marginalen Referenz zu Martin Heidegger und Boris Groys bezog sich niemand auf deutschsprachige Theoretiker.

Der Vortragstitel von Lars Saari (Finnland) deutete gewitzt auf die Launen und Moden der Kritiker: We do not solve our problems, we just get bored with it. (Weiterführende Infomationen: www.aica-int.org).

Peter Herbstreuth, Berlin, im Oktober 2005


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