2008 Das Kupferstich-Kabinett in Dresden

Museum des Jahres 2008


Kupferstich-Kabinette stehen gewöhnlich nicht im Focus des öffentlichen Interesses. Schon ihr altertümlicher Name signalisiert, dass sie sich der populären Eventkultur entziehen. Andererseits finden sich in ihren Sammlungen die Zeugnisse, die so etwas wie die konzeptionellen Voraussetzungen, die Blaupausen der Kunst seit Beginn der Neuzeit, namentlich der zeitgenössischen Kunst verkörpern. Nicht wenige Kunstexperten teilen sogar die Auffassung, dass Zeichnungen die Schrittmacher der modernen Spielarten der Kunst gewesen sind.
Seit langem ist das Dresdner Kupferstich-Kabinett durch seine originellen, intelligenten und wissenschaftlich mit aller Sorgfalt erarbeiteten Ausstellungen sowie seine überlegte einerseits aufgeschlossene, andererseits klug abwägende Erwerbungspolitik aus diesem Schatten herausgetreten. Besonders die vielen vorbildlichen, von nicht minder vorbildlichen Katalogen begleiteten Ausstellungen, die beständig die Bestände der eigenen Sammlungen unter immer wieder überraschenden Aspekten beleuchten und dadurch aktualisieren, stellen eindrucksvoll unter Beweis, dass eine Kunst, die sich aus den Anregungen ihrer eigenen Geschichte auch da speist, wo sie bewusst gegen sie verstößt, losgelöst von ihrer historischen Basis seltsam leer, unverständlich, beziehungslos und oberflächlich wirken muss. Zudem stellen sie auch die Werke der Künstler der Vergangenheit, unabhängig von welcher Epoche, regelmäßig unter die Sonde neuerer Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung, wie sich das Kupferstich-Kabinett auch nicht scheut, Konstellationen in der Kunst der Gegenwart zu zeigen, die im Mainstream des Kunstbetriebs trotz ihres Anspruchs und ihrer ästhetischen Qualität fortgespült werden. Erst letztes Jahr verlieh Hans-Peter Riese seinen persönlichen AICA-Kritikerpreis an die Ausstellung „Barbara Klemm, Fritz Klemm - Photographien, Gemälde, Zeichnungen". Ausstellung und Katalog „Weltsichten" (2004), eine ebenso großartige wie instruktive Versammlung von Meisterwerken der Zeichnung, Graphik und Photographie, demonstrierten exemplarisch die „kunstpolitischen Vorstellungen des Instituts, die in künstlerischen Äußerungen auch stets eine bestimmte Einstellung zur Welt und eine spezifische Sicht auf die Welt - in doppelsinniger Bedeutung des Wortes - reflektieren. So ist es vermutlich kein Zufall, dass das Dresdner Kupferstichkabinett unter der langjährigen Leitung (1959-1985) des couragierten AICA-Mitgliedes Werner Schmidt nicht nur das Museum in der DDR war, das sich auch jener künstlerischen Werke annahm, die sich mit den wechselnden offiziellen ästhetischen Doktrinen des herrschenden Regimes nicht vereinbaren ließen (so manches Mal unter Risiken), sondern auch bevorzugte Anlaufstelle von Künstlern, Kritikern und Kuratoren aus „dem Westen", die stets beeindruckt waren von der Offenheit und der Souveränität des Denkens unter erschwerten Bedingungen. So stellte das Kupferstich-Kabinett in Dresden eine der wichtigsten Informationsquellen für ungewöhnliche und innovative künstlerische Entwicklungen in der DDR dar.
Das Dresdner Kupferstich-Kabinett ist das älteste Museum für die graphischen Künste in den deutschsprachigen Ländern. Hervorgegangen aus der 1560 gegründeten Kunstkammer der sächsischen Kurfürsten, gehörte es schon seit 1900 zu den führenden Sammlungsinstituten, in denen kunstwissenschaftlich gearbeitet wurde. Trotz der schweren Verluste, die der Nationalsozialismus und seine Konsequenzen in der Nachkriegszeit seinen Beständen zugefügt haben, umfasst es 500.000 Werke auf Papier von 20.000 Künstlerinnen und Künstlern. Darunter Arbeiten von Jan van Eyck und Albrecht Dürer, Peter Paul Rubens und Rembrandt, Caspar David Friedrich und Henri Toulouse-Lautrec, von Otto Dix und Piet Mondrian, von Gerhard Richter, Rachel Whiteread oder Eberhard Havekost. Nicht zu vergessen in diesem Zusammenhang sind seine reichhaltigen fotografischen Konvolute, von David Octavius Hill & Robert Adamson über Hermann Krone, Nicola Perscheid, El Lissitzky, Laszlo Moholy-Nagy, Alexander Rodtschenko und John Heartfield bis zu Christian Borchert, Evelyn Richter, Candida Höfer und Barbara Klemm.
Das Dresdner Kupferstich-Kabinett demonstriert mit seinen vielfältigen, häufig aufeinander abgestimmten Tätigkeiten nachdrücklich und überzeugend, dass sich das Museum nicht ständig „von neuem erfinden" muss, um seine gesellschaftliche Aufgabe als Ort der anschaulichen Vermittlung von Wissen und zugleich beglückender Sinnenlust zu erfüllen. Das Kupferstich-Kabinett, seit 1991 unter der gleichermaßen gescheiten wie kreativen Leitung von Wolfgang Holler, hat seine Eigenständigkeit bewahrt, war und ist gleichwohl neugierig auf die möglichen Wendungen der Künste, ohne der Versuchung zu erliegen, temporären Trends nachzugeben. Die Auszeichnung „Museum des Jahres 2008" der deutschen Sektion des Internationalen Kunstkritikerverbandes AICA gilt einem Haus, das seinen klaren Kurs beibehält und das Sammeln, Bewahren und Erschließen von Kunstwerken mit großer Ernsthaftigkeit und Umsicht betreibt.

Klaus Honnef, Bonn, 04.11.2008


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