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2005

In memoriam Hanns Theodor Flemming



Pionier der deutschen AICA

Kein deutscher Kunstkritiker war länger in seinem Beruf tätig: 1945 erschienen seine ersten Kritiken, im Mai 2005 veröffentlichte die „Weltkunst“ seinen Nachruf auf Bernard Schultze.

Als knapp Dreißigjähriger war er aus Krieg und Gefangenschaft in England zurückgekehrt und hatte gleich angefangen, „im Dienst der Interpretation und der Förderung der zeitgenössischen bildenden Kunst“ (so H. Th. F. 1952) mit Sendungen im Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) und mit Zeitungsartikeln zu wirken. Er schrieb für „Die Welt“, für „Die Neue Zeitung“, den „Tagesspiegel“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und für Zeitschriften, insbesondere für „Das Kunstwerk“. Er besprach Ausstellungen in Hamburg, Hannover und Berlin, und er interpretierte die Arbeit jener Künstler, deren Talent er als erster erkannte. Das waren 1947 Bernard Schultze, 1955 Paul Wunderlich, 1957 Horst Janssen. Aber vergessen wir nicht: Zur zeitgenössischen Kunst gehörten damals auch Picasso, Matisse und Chagall – Künstler, die er 1951 in Vallauris, Nice und Vence besuchte. Schon 1947 war er bei Beckmann in Amsterdam und berichtete darüber, wie über seine Atelierbesuche bei Nolde, Kokoschka, Dali und vielen anderen. Seine Gespräche mit Max Ernst, Duchamp, Miró, Hockney oder Warhol erschienen zumeist in der „Welt“.

Nebenher schloss er sein Kunstgeschichtsstudium ab. Die Dissertation schrieb er über den Malerdichter Dante Gabriel Rossetti (1828 – 1882) – zu einer Zeit, als die Präraffaeliten nur Verachtung fanden. Auch als Dozent und bald Professor für Kunstgeschichte im Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Hamburg (1959 – 1981) war er weiter als Zeitungskritiker tätig – mit stupender Produktivität. Zu seinen Buchpublikationen zählen Monographien über Mataré, Moore, Heiliger, Seitz und Hausner. In seinen Schriften „Figur und Raum in der Plastik der Gegenwart“ (1964) und „Gedanken zum Beurteilen von Kunstwerken“ (1966) entwickelte Flemming eine Strukturanalyse bildnerischen Gestaltens und „eine Art von Relativitätstheorie der Kunstkritik“, wie er sie nannte, deren Kriterium die „ästhetische Relevanz“ wurde.

Im Internationalen Kunstkritikerverband (AICA) war Flemming lange höchst aktiv. Als sich 1951 ein Komitee zur Gründung der deutschen Sektion bildete, mit Bruno E. Werner, Franz Roh, Will Grohmann und Carl Linfert, vertrat er neben Werner Haftmann die junge Generation. Beim AICA-Kongress 1952 in der Schweiz wurden als „membres sociétaires“ zwei Deutsche aufgenommen, Roh und Flemming, der Präsident und der Sekretär der deutschen Sektion. So spielte Flemming im Meinungsaustausch der deutschen Kritiker, zu denen bald Hans Hildebrandt, Benno Reifenberg, Hans Maria Wingler und Leopold Zahn gehörten, neben Roh die entscheidende Rolle; 1958 wurde er Vizepräsident. Keiner nahm in den Anfangsjahren an so vielen Kongressen teil wie er, und jedes Mal schrieb er darüber und unterrichtete so die Zeitungsleser über die Situation der internationalen Kunstkritik.*)

Seine Arbeit als Kunstkritiker nahm Flemming sehr ernst. In beinahe 60 Jahren hat er gewiss einige Tausend Kritiken veröffentlicht. Als die Hamburger Kunsthalle 2001 die Publikation „Private Schätze. Über das Sammeln von Kunst in Hamburg bis 1933“ herausgab, schrieb er einen Bericht über Konsul Max Leon Flemming, seinen Vater, und dessen bedeutende Sammlung moderner Kunst mit Werken von Picasso, Chagall oder Kandinsky. Im hohen Alter gedachte er des Mannes, dem er die Liebe zur Kunst verdankte.

Am 5. August ist Hanns Theodor Flemming in seinem Haus in Reinbek bei Hamburg gestorben. Seinen immensen schriftlichen Nachlass hat er dem Archiv für Bildende Kunst im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg versprochen.

Helmut R. Leppien, Hamburg, im Juli 2005

Zum Tod des Kunsthistorikers Lothar Romain

Zum Tod des Kunsthistorikers Lothar Romain

Ein ungewöhnlicher Kunsthistoriker ist von uns gegangen. Am 14. Juli starb in Berlin Lothar Romain. Seit 1996 war er dort Präsident der Universität der Künste gewesen. Er hat dabei Großes geleistet – aber auch schon vorher scheute er vor keiner Gremienpräsenz, weder vor Kulturpolitik noch vor Kulturmanagement, zurück. Gesellschaftliche Einbindung und künstlerische Autonomie verstand er immer als Pole, zwischen die seine Arbeitsbiografie gespannt war. Zur AICA gehörte er ein Vierteljahrhundert.

Im vorletzten Kriegsjahr geboren, studierte Romain in Köln Kunstgeschichte, Germanistik, Theaterwissenschaft und Philosophie. Beim Südwestfunk lernte er als Redakteur dann die praktische Seite der Kulturvermittlung kennen. Anschließend diente er als Referent für den SPD-Vorstand in der Baracke, danach war er Feuilleton-Chef beim „Vorwärts“. Seit 1991 lehrte Romain an der Kunstakademie in München. Als Präsident der Berliner Universität der Künste wurde er später zum Sprecher sämtlicher deutschen Kunstakademien gewählt.

Die Liste seiner Funktionen und Würden ließe sich lange fortsetzen, aber Daten und Positionen zeichnen gerade von diesem Kunsthistoriker ein unzureichendes Bild. Drei Jahrzehnte lang stand Romain, ohne jeden Aktionismus, als einer der großen Anreger, Berater, Bewirker aufseiten der Kunst. Zweimal war er mein wichtigster Gesprächspartner auf dem Weg zur Documenta 6 und 8. Im Lauf der 30 Jahre, die wir nun befreundet waren, nahm sein unternehmungskühner Aufbruchsgeist immer wieder Projekte ins Visier, die Schule machten. Schon in den 1970er Jahren, erfand er, gemeinsam mit Rolf Wedewer, die sozial fokussierte, analytische Themenausstellung. Als Kurator betreute er den ersten Rückblick auf „Positionen“ bundesrepublikanischer Malerei in der damaligen DDR (1986) oder versammelte deutsche Außenplastik „Bis Jetzt“ in Hannover (1990). Was hat er nicht alles initiiert, organisiert und mit seiner besonnenen Energie begleitet! Die viel vermisste Zeitschrift „Orte – Kunst für öffentliche Räume“ war auch sein Geisteskind. Andere Zeitschriften brachte er zu früh oder unter unguten Bedingungen ins Spiel.

Umso größere Genugtuung durfte er mit seiner mutigsten, anspruchsvollsten, publizistischsten Idee erfahren, die er gemeinsam mit Detlef Bluemler 1988 verwirklichte und die beide erfolgreich fortentwickelt haben. Unter dem Titel „Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst“ besteht und gedeiht es nun schon im 17. Jahr. Es ist auf über 500 Hefte angewachsen, ein einzigartiges lexigrafisches Kompendium nach vorne. Auch etliche Kunstpreise gehen auf die sanfte Überzeugungskraft von Lothar Romain zurück. Genug schon für ein einziges Kunsthistorikerleben! Daneben schrieb er noch gut 30 Bücher, darunter wichtige Monographien über Warhol, Heiliger, Bernard Schultze, sowie ungezählte Katalogaufsätze und andere Beiträge zur zeitgenössischen Kunst. Sein nachdenklicher Stil reflektiert die Anschauung und lässt Reflektionen anschaulich bleiben. Für viele junge KünstlerInnen war er der erste Autor oder Eröffnungsredner, der ihrem Selbstverständnis sichere Grundlinien vorgab. Insgesamt – weit mehr als ein Lebensvorspiel zur Präsidentschaft der Universität der Künste, die in ihrer heutigen Form der letzte große Beitrag Romains zu einer Neugründung ist. Das überdehnte, kaum hantierbare Institut verdankt ihm Modernisierung und Gangbarkeit, vor allem die Straffung der elf Fachbereiche zu vier Fakultäten. Viele werden ihn vermissen. Nicht nur den Präsidenten, auch den guten Freund.

Manfred Schneckenburger, Köln, im Juni 2005

zum Tod von Harald Szeemann



Welten auf Zeit

Hier erdachte er „Welten auf Zeit“. Hier war sein „Museum der Obsessionen.“
Von einem Bergbach und der schmalen Straße dicht an die Felswand eines engen Tals im Tessin gedrängt, steht das über hundertjährige Gebäude, eine ehemalige Fabrik, in der Harald Szeemann seine „Agentur für geistige Gastarbeit“ eingelagert hatte, wo er in einem geordneten Chaos arbeitete.
Unzählige Ausstellungen hat er konzipiert und durchgeführt, weitere waren stets gleichzeitig in Planung. Täglich erreichten ihn säckeweise Post; Computer, Telefon und Fax haben die Papierberge nicht eindämmen können. Bücher, Kataloge, Akten, Kassetten, Kunstwerke und Souvenirs füllen die drei Stockwerke der „Szeemann-Factory“ so dicht, dass man sich kaum hindurchbewegen kann – eine verwirrende Fundgrube für den Besucher, eine systematisch geordnete Arbeitsumwelt für den Ausstellungsmacher, dessen Gedächtnis jeden Kubikmeter Material beherrschte.
All dies hat sein lebendiges Zentrum verloren, diesen Menschen, von dem sich keiner, der ihm begegnete, vorstellen konnte, dass er eines Tages nicht mehr da wäre.
Dort in seiner Schweizer Bergwelt, und zugleich in allen Haupt- und Nebenstädten, in denen er seine eigenen Obsessionen verwirklichen, die anderer Künstler vermitteln konnte. Er war darin eigenwillig und erfindungsreich, er eckte an und er wurde bewundert. Vieles musste er erkämpfen. Er tat es mit ruhigem Humor. Es ist hier nicht nötig, die Seiten füllenden Listen seiner Aktivitäten herunterzubeten, sie sind bekannt. Oder die Auszeichnungen zu erwähnen, die er erhielt. Es waren zu wenige. Es ist wichtig, an den Freund zu erinnern, der er vor allem war, an den Helfer, der sich Zeit nahm, an den Weisen, der großmütig vergeben konnte. Es wäre schön, all das zu bewahren, was er dort in dem Tal versammelt hat. Doch wer erzählt die Anekdoten, die all diese Akten zum Leben erwecken? Wer ? Er wird uns sehr fehlen.

Wibke von Bonin, im Februar 2005

Zum Tod von Kurt Leonhard

Die deutsche AICA beklagt den Tod ihres langjährigen Mitgliedes Kurt Leonhard.
Der Kritiker, Dichter und Übersetzer ist am 10. Oktober in seiner Wahlheimat Esslingen im Alter von 95 Jahren gestorben. Kurt Leonhard hatte sich zuletzt ganz zurückgezogen – exakt so, wie er es in den letzten zwölf Zeilen seines Gedichts „Absage“ von 1951 beschrieben hatte: „...keine Hast mehr / kein Hort mehr / keine List mehr / keine Last mehr / keine Lust mehr / kein Feind mehr / kein Freund mehr / kein Gast mehr / kein Wirt mehr / kein Wert mehr / kein Wort mehr / AMEN“.
Noch 1997 hatte er der AICA seine 1994 verfassten Aphorismen zum Thema „Ist Kunst mehr als ‚Kunst’?“ in seiner wunderbaren Handschrift überlassen. Ich druckte diese – wie er sie nannte – „Denkversuche“ faksimiliert im Anhang zu Heinrich Hahnes Essay „Sprache und Kunstkritik“ (Band 5 der „Schriften zur Kunstkritik“, Köln 1997, S. 33-40).
Geboren am 5. Februar 1910 in Berlin, studierte er dort Kunstgeschichte und Philosophie, brach das Studium aber 1936 ab, weil sein Promotionsthema über Marées, Hildebrand und Fiedler „politisch unerwünscht“ (Leonhard) war. Er wirkte in Berlin als Kunsthändler und Verlagslektor, ehe er 1941 in den Krieg musste. 1946 kehrte er aus amerikanischer Gefangenschaft in Italien nach Deutschland zurück, um sich in Esslingen am Neckar niederzulassen, wo er Mitbegründer und erster Geschäftsführer der Volkshochschule wurde.
1947 begann er, über moderne Kunst zu schreiben. Er nannte seine Texte „engagiert zur Vermittlung moderner und zeitgenössischer Kunst“. Noch 1947 erschienen sie gesammelt im Werk „Die heilige Fläche“, das heute ebenso als Kultbuch gilt wie sein „Augenschein und Inbegriff“ von 1955. Seine Lyrik ist ohne Zweifel durch Dada angeregt. Viele seiner Gedichte gehören für mich zum festen Bestand der Dichtkunst im 20. Jahrhundert; zu Recht hat Axel Marquardt vier Beispiele aus der lyrischen Produktion Leonhards in seine 1992 erschienene Anthologie „100 Jahre Lyrik – Deutsche Gedichte aus zehn Jahrzehnten“ aufgenommen. Leonhards Verse stehen für den „Bewusstseinsriss“ (Marquardt), den das inhumane 20. Jahrhunderts von allen seinen Vorgängern trennt. Seine Position als Vertreter einer „kritischen Moderne“, die so ohne Nietzsche nicht denkbar wäre, wird auch deutlich, wenn man sich vor Augen führt, für welche Autoren sich der Übersetzer Leonhard engagiert hat: Paul Valéry, Henri Michaux, E.M. Cioran, Romain Rolland.
Dass ihn seine Familie in der Todesanzeige mit einem seiner Gedichte verabschiedet hat, zeigt den ganzen Respekt, der auch im Privaten seiner Dichtkunst gilt. Die Verse sollen auch hier stehen: „Ich liege / Völlig entspannt / Will nichts / Weiß nichts / Denke nichts. / Ich bin alles / Alles ist nichts“.

Walter Vitt, Köln, im Oktober 2005

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